Von Walter Baier (KPÖ-Vorsitzender, Herausgeber der „Volksstimme“)
Publiziert in der Volksstimme, Nr. 24/2001, 14. Juni 2001
„Da es Stalin (…) durchzusetzen vermochte, dass er als der legitime Erbe Lenins, als sein authentischer Ausleger, dass er als vierter Klassiker anerkannt werden sollte, hat sich das verhängnisvolle Vorurteil von der Identität der Stalinschen Theorien mit den Grundprinzipen des Marxismus immer mehr verfestigt.“
(Georg Lukacs, „Marxismus und Stalinismus“)
Es gibt eine verhängnisvolle Übereinstimmung zwischen AntikommunistInnen und VerteidigerInnen des Stalinismus. Beide betrachten als eine unumstößliche Tatsache, dass es zu dem von Stalin Ende der 20er Jahre in der Sowjetunion errichteten Herrschaftssystem keine Alternative gegeben habe. Hält aber diese Behauptung einer theoretischen und geschichtlichen Kritik stand?
In einem seiner ersten Werke formuliert Marx als Maxime seines wissenschaftlichen und politischen Programms: „Die Theorie ist fähig die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem (am Menschen) demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein, heißt das Übel an der Wurzel fassen. Die Wurzel aber für den Menschen ist der Mensch selbst“ (Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung ). KommunistInnen, die es ernst meinten, betrachteten seit je den Menschen und seine Emanzipation als Maß der Politik. Letztlich ergibt sich daraus auch der Maßstab für die Beurteilung des Stalinismus und seiner Verbrechen.
Doch auch aus historischer Sicht erweist sich die gesellschaftspolitische Wende der Sowjetunion, die mit dem Namen Stalin verbunden ist, keineswegs als jene zwingende Notwendigkeit zu der sie 1938 in der „Geschichte der KPdSU(B). Kurzer Lehrgang“, also der von Stalin persönlich auf dem Wege eines ZK-Beschlusses verordneten Sicht auf die Revolutionsgeschichte erklärt wurde. Weit eher als eine Notwendigkeit stellt sie sich als eine willkürliche Weichenstellung der gesellschaftlichen Entwicklung in Richtung Repression und Terror heraus. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass sich vom Beginn des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ und durch seine gesamte Geschichte ein stetes Ringen um ökonomische, soziale und politische Alternativen abspielte, das allerdings jeweils an Stalin und die ihn selbst überdauernden Strukturen scheiterte – bis diese Strukturen selbst zerfielen.
Eine andere These, die – bis heute – zur Abwehr einer vertieften Auseinandersetzung bemüht wird, beklagt einen angeblichen Mangel an wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema. Auch diese Behauptung lässt sich, sobald man die Fülle der zugänglichen Tatsachen und der Literatur überblickt, nicht aufrechterhalten. Wenn Mangel besteht, so aufgrund einer über Jahrzehnte hindurch verweigerten Auseinandersetzung in vielen kommunistischen Parteien, für den diese selbst und insbesondere die KPdSU die Verantwortung tragen. So lässt sich jedenfalls keine Begründung dafür ableiten, dass die im Namen des Kommunismus – und an ihm – begangenen Verbrechen jahrzehntelang nicht als solche benannt wurden. Zumindest so viel steht heute, zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion fest, dass die Nichtbewältigung dieses schweren Erbes eine der Hauptursachen für den Zusammenbruch des Realsozialismus darstellt. Der ganze Beitrag