Therapiestunde der (Ex-)Piraten oder Auf dem Weg zum Sozialismus 4.0?

Das Bürgerbüro „BerlinXXnet“ in der Greifswalder Straße war die würdige Couch, die Emanzipatorische Linke Berlin der passende Rahmen und die Piraten die originellen Klienten für eine politische Therapiesitzung, die ausloten sollte, was von dem Leuchtfeuer in der Parteienlandschaft geblieben ist, wo der „ekelige“ Rest einer Partei am auseinander brechen, seine neue politische Heimat findet und was eine Linke, speziell die Emanzipatorische Linke, davon eventuell haben könnte.

Dazu musste man sich von Anne und Klaus-Peter und später auch von Teilen der zahlreich erschienenen Berliner (Ex-) Piraten-Prominenz knallharte Analysen zum Zusammenbrechen der Piratenpartei anhören, die zum Teil auch sehr persönlich, emotional und verletzlich waren. Es waren noch einige Wunden zu lecken. Es ging um Hausaufgaben, die die Piratenpartei für die Gesellschaft und für andere Parteien bereits erledigt hatte oder als Impulsgeber und Vorreiter für Diskurse zur Verfügung stand. Und es ging um die vielen nicht erledigten Aufgaben, die weiterhin zum großen Teil Leerstellen sind und bisher von anderen politischen und gesellschaftlichen Kräften noch nicht oder völlig ungenügend aufgefangen worden sind.

Aufgefangen und abgeholt werden, das wollten die meisten „piratisierten“ Anwesenden an diesem Abend. Neuorientierung der gebeutelten Ex-Mitglieder und Positionierung noch ungelöster Themen dominierten dann auch die folgenden Inputs beim Fishbowl. Es wurde deutlich, wie die Piraten mit ihren Ideen gebraucht wurden, wie angenehm es war, dass sie in einer frischen und naiven Art die Parteienlandschaft aufgemischt haben und wie unbehaglich es sich anfühlte, als sie sich anschickten, mit Getöse und unwürdigen Attitüden von der politischen Landkarte zu verschwinden.DSC00795

Weil große Teile der Linken noch in der industriellen Revolution und im Sozialismus 2.0 verharren, bräuchte es die Experten der digitalen Revolution, die die Linke anschlussfähig für neue Generationen machen würde und vielleicht einen Weg zum Sozialismus 4.0 flankieren könnte. Die technischen Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesellschaft sozial denken und digitale Innovation nicht als Mittel zur Repression von Herrschenden zu begreifen, dafür könnten die Ex-Piraten und die fortschrittlichen Kräfte der Linken stehen. Dieser Abend war dafür sicher ein erster und wichtiger Aufschlag. (RW)

 

Nachtrag 26.04.2015: Die sozialistische Tageszeitung Neues Deutschland berichtet ebenfalls über diese Veranstaltung, und vermeidet es dabei gekonnt, Ort (BerlinXXnet) und Veranstalter (Ema.Li Berlin und BerlinXXnet)  zu nennen :-). Glückwunsch!

 

… und hier der Mittschnitt des Live Streams:

 

Make it real! Erneuert Netzaktivismus unsere Demokratie?

Berlin, 31.1. https://www.facebook.com/events/1432647866969222

2013 war ein wichtiges Jahr für politischen Netzaktivismus. Auch in Deutschland bemühen sich die verschiedensten Organisationen, Initiativen und Netzwerke, aber auch die politischen Parteien, Kampagnen ins Netz zu tragen oder online- und offline-Kampagnen miteinander zu verschränken. Die ‪#‎aufschrei‬-Kampagne ist dabei ein Beispiel für online-Kampagnen, denen es gelingt, die „unsichtbare Mauer“ zwischen Netzengagement und offline-Debatte zu überschreiten. Politische Großereignisse werden nunmehr in bedeutend stärkerem Maße durch das Netz begleitet und kommentiert, Online-Petitionen und andere netzgestützte Partizipationsversprechen scheinen unsere Demokratie und den Einfluss des Einzelnen zu erweitern. Doch: Welche Chancen für neue Beteiligungsformen bietet das Netz wirklich? Erneuert das Netz unsere Demokratie? Welche Risiken bringt diese Entwicklung mit sich? Und: Was muss da eigentlich geregelt werden?

Mit:
► Prof. em. Peter Dahlgren (Department of Communication and Media, Universität Lund, Lund/Schweden).
► Dipl.-Soz. Katharina Meßmer (#aufschrei-Initiatorin und Sozialwissenschaftlerin, Berlin) und
► Adrià Rodríguez (Fundación de los Comunes, Teil des ‪#‎GRRN‬ (Global Revolution Research Network) und des Kairos Project).
► Moderation: Halina Wawzyniak (MdB, DIE LINKE).

Die Diskussion kann zeitgleich per Video-Livestream im Internet verfolgt werden: http://livestream.rosalux.de/

Rosa-Luxemburg-Stiftung

 

 

Karl&Rosa: „Fra­gend bli­cken wir zu­rück. Fra­gend schrei­ten wir voran.“

Mehrere Gruppen haben schon 2013 versucht, sich von der stalinistisch geprägten Gedenkdemonstration zum Todestag von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg abzu setzen. Die Emanzipatorische Linke und die Emanzipatorische Linke Berlin waren dabei und haben die Aktionen unterstützt. Jetzt gibt es bereits einen neuen Aufruf für 2014. Diesen möchten wir hiermit veröffentlichen. Termine und Details werden noch folgen.

„Die Er­in­ne­rung an be­stimm­te his­to­ri­sche Ent­wick­lun­gen und ihre Ana­ly­se sind be­deu­ten­der Teil un­ter­schied­lichs­ter „lin­ker“ Be­we­gun­gen. Je nach theo­re­ti­schem An­satz er­füllt hier­bei die Aus­ein­an­der­set­zung mit Ge­schich­te ver­schie­de­ne Funk­tio­nen. Vor über einem Jahr haben wir uns in den Dis­kurs um das Er­in­nern an die Er­mor­dung von Rosa Lu­xem­burg und Karl Lieb­knecht ein­ge­mischt. Im Ja­nu­ar 2013 fan­den eine Ak­ti­ons­wo­che und eine De­mons­tra­ti­on zum Ge­den­ken an die Kämp­fe der Jahre 1918/19 statt. Wir ste­hen auch wei­ter­hin für einen kri­ti­schen Blick auf linke Ge­schich­te:

Die Ge­schich­te des Ka­pi­ta­lis­mus ist das Er­geb­nis his­to­ri­scher Macht­kämp­fe und sie wird von den Herr­schen­den ge­schrie­ben. Wir set­zen auf eine an­de­re Form der Er­zäh­lung. Ge­schich­te ist nicht sta­tisch, sie ist viel­schich­tig, wird von vie­len er­lebt und ge­macht und ist durch­aus auch wi­der­sprüch­lich. Sie ist nicht zwangs­läu­fig. Für uns be­deu­tet eine al­ter­na­ti­ve Ge­schichts­er­zäh­lung auch, die Ideen, Ge­dan­ken und Theo­ri­en für die z. B. Rosa Lu­xem­burg stand, in den Vor­der­grund zu rü­cken und sich mit ihnen kri­tisch aus­ein­an­der­zu­set­zen. …“ weiterlesen

Unterstützer*innen 2013

Tagung: Zur Lage des Marxismus

Tagung in Kooperation mit der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung und dem Arbeitskreis kritischer Juristinnen und Juristen an der HU. Berlin, 13.-15.12. http://bit.ly/1dS3rTg

Mit Elmar Altvater, Frank Deppe, Birgit Sauer, Michael Heinrich, Thomas Sablowski, Klaus Dörre, Lutz Brangsch, Katja Diefenbach, Peter D. Thomas, Katharina Pühl, Nikita Dhawan, María do Mar Castro Varela, Sonja Buckel u.a.

„Ein von Oliver Nachtwey in der F.A.Z erschienener Artikel hat Anfang 2012 auf dem AkG-Verteiler zu einer teilweise hitzig ausgetragenen Diskussion über die Lage des Marxismus in Deutschland geführt. Dass der Artikel derartig breit diskutiert wurde und eine solche Kontroverse ausgelöst hat, hängt auch damit zusammen, dass der Zustand des Marxismus in der Bundesrepublik und allgemein im deutschen Sprachraum bislang kaum systematisch betrachtet wurde. Dabei drohen viele Erfahrungen unreflektiert verloren zu gehen: Vor allem aus der Perspektive von Jüngeren fehlt es an Wissen darüber, welche Debatten an welchen Orten schon einmal geführt worden sind und welche Resultate und Sackgassen sich aus ihnen ergaben. Andererseits entstehen vielfach neue Debattenstränge, die sich zwar im Marxismus verorten, oft aber von den etablierten Vertreter_innen marxistischer Diskussion kaum zur Kenntnis genommen werden. …“ hier kannst Du weiterlesen

 

Linke für andere

aus „Ungehaltene Rede zur Kandidatur für den Bundesvorsitz der Partei Die Linke beim 3. Parteitag
Göttingen, 1. Tagung“ Mai 2012

Von Karsten Krampitz

Der römische Geschichtsschreiber Sallust schrieb einst im „Βellum Iugurthinum“: „aut quem alienum fidum invenis, si tuis hostis fueris?“ Ich weiß, der Politiker Sallust ist in der Linken umstritten, dennoch will ich dieses Zitat meiner Rede voranstellen:
„Welchen Fremden wirst du gewinnen, wenn du den Deinen ein Feind bist?“
In unserer Partei bin ich Mitglied geworden, in erster Linie aus Unzufriedenheit über die Politik der CDU, SPD und FDP. Um an deren Politik konkret etwas zu ändern, hätte ich wohl besser dort eintreten sollen? Von der Basis in Pankow aus kann ich das immer sehr gut beobachten: diese unglaubliche Energieverschwendung. Ich muss das jetzt nicht konkret benennen, um wen es geht. In der Regel kämpfen die Guten gegen die Gerechten. Das Ergebnis sehen wir. Vielleicht ist es an der Zeit, ein paar Selbstverständlichkeiten wieder ins Gedächtnis zu rufen:
– Aufgabe der Partei ist es zuerst, die Schwachen stark zu machen; dabei zu helfen, dass in unserem Land so viele arme Leute wie möglich ein halbwegs anständiges Leben führen
können. (Hartz IV-Empfänger, Behinderte, Flüchtlinge usw. )
– Nicht jeder in unserer Partei, der anders denkt, ist ein Falschdenker. Auch der anders Denkende oder Redende besitzt ein Stück von der Wahrheit, mindestens.
– Es macht einen himmelweiten Unterschied, ob ich mich in einem Konflikt durchsetze oder ob ich überzeuge.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich sehe Streit als etwas sehr Wichtiges an; Streit muss sein – auch und gerade in der Linken – allerdings wünsche ich mir mehr Streit um Ideen, nicht um Einfälle. Und ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass wir uns eine ganz bestimmte Idee von den Konservativen und Liberalen zurückholen: Freiheit.
Ich sehe unsere Partei als Seismographen für gesellschaftliche Veränderungen. In einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist es ihre Aufgabe, Staat und Gesellschaft immer wieder daran zu erinnern, dass Freiheit zuerst die Freiheit von Angst ist. Die Freiheit von Angst ist keine Nuance, keine Spielart der Freiheit, die neben anderen Formen von Freiheit existiert – etwa der Reisefreiheit, der Pressefreiheit usw. Die Freiheit von der Angst ist die Voraussetzung für alle anderen Freiheiten (ausgenommen vielleicht die Religionsfreiheit, aber lassen wir das).
Ein Hartz IV-Empfänger lebt nicht nur in materiell sehr bedrückenden Verhältnissen. Diese Frauen und Männer am Existenzminimum leben in ständiger Angst, dass man ihnen das bisschen Stütze auch noch streicht, weil sie irgendwelchen Anforderungen nicht nachgekommen sind, nicht entsprechen. Diesen Menschen müssen wir die Angst nehmen.
„Furcht macht unmündig“, lesen wir bei Heino Falke, dem vielleicht wichtigsten Theologen in der DDR. „In der Angst um sein Leben macht der Mensch aus vergänglichen Dingen Götzen, die ihm Sicherheit geben sollen (…) Konsum, Verhaltensnormen und Ideologien werden zu Götzen der Angst. Sie sollen Leben garantieren, aber sie machen hörig. Wer Angst hat, ist beherrschbar, man kann ihn gefügig machen und benutzen.“[1]
Den Angstmachern müssen wir entgegentreten. Für die Freiheit von der Angst!
Ich bin mir sicher, dass wir im Ringen um mehr Freiheit in unserem Bundespräsidenten – dem „grün, links-konservativ Liberalen“, der wie kein anderer nach dem Fall der Mauer für die Bürgerrechte in der DDR gekämpft hat – einen treuen Verbündeten haben. Gauck, der nicht müde wird, von zwei Diktaturen in der deutschen Geschichte zu sprechen, weiß sicher auch, wohin soziale Unfreiheit und Angst führen können.
Die Freiheit aber in unserem Sinne ist eine völlig andere als jene, die uns täglich begegnet:
Freiheit als Beliebigkeit, als Alibi für soziale Verwerfungen. Die kapitalistische Freiheit ist die Freiheit voneinander, wir wollen die Freiheit füreinander. Voraussetzung dafür aber ist, wie gesagt, ein Leben ohne Angst. – Das heißt aber auch, dass wir selber den Leuten keine Angst machen dürfen!
Das war ja mal eine Erscheinung des Mittelalters: Wanderprediger, die über die Marktplätze gezogen sind und den Weltuntergang beschworen haben, der aber offensichtlich nie eingetreten

Ich will das jetzt gar nicht weiter ausführen, all die Bedrohungen durch den
Weltimperialismus und die Springerpresse oder auch durch Fremdarbeiter.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich bin nicht gegen Populismus. Im Gegenteil, ich bin sogar für noch mehr Populismus! Dem Volke aufs Maul schauen und die Menschen auch emotional anzusprechen, sie zu berühren, ihre Herzen zu gewinnen, ist eine hohe Kunst. In Berlin haben wir die Abgeordnetenhauswahl verloren, nicht so sehr wegen unserer Regierungspolitik, sondern weil die Linke die Menschen nicht mehr auf emotionaler Ebene erreicht. – Andere waren authentischer, hatten die besseren Plakate, die besseren Themen.
Anderes Beispiel: Die Grünen und ihre relativ hohen Umfragewerte.
Jeder weiß, dass die Grünen die Agenda 2010 mitbeschlossen haben. Sie tragen Verantwortung für Hartz IV. Die Grünen waren und sind bei allen Kriegen dabei, sozusagen an vorderster Front. Die Tür, die ein Joschka Fischer aufgestoßen hat, ist seither nie wieder geschlossen worden. Schon bei Erich Kästner lesen wir:  „Kennst du das Land wo die Kanonen blühn? (…) / Dort reift die Freiheit nicht, dort bleibt sie grün!“
Die Grünen in der Regierung haben ihren eigenen Mitgliedern verboten, am Anti-Castor-Protest teilzunehmen. Das alles ist bekannt, trotzdem werden die Grünen im linken Spektrum geortet und gewählt. Warum? Weil sie für ein bestimmtes Lebensgefühl stehen. Und da sage ich: Das können wir auch.
Wir verlieren Wahlen, nicht weil wir keine Antworten haben auf drängende Fragen, sondern ganz offensichtlich aus ästhetischen Gründen. Das eigentliche Problem liegt m. E. in der Performance, in der Darstellung. Aber auch das ist alles schon oft genug gesagt worden. Nur ist es so: Viele Menschen, die uns früher gewählt haben und uns heute vom Gefühl her ablehnen, vom HörenSagen oder auch vom Fernsehen oder aus sonst welchen Gründen, die lesen keine Parteiprogramme – diese Leute werden wir mit Flugblättern nicht erreichen.
Linke Politik muss populistisch sein. Wie im normalen Leben: Solange meine Freundin mich liebt, verzeiht sie mir, sieht sie über meine Schwächen und Fehler hinweg. Jedoch nur bis zu einer bestimmten Grenze.
Allerdings plädiere ich für einen neuen Populismus, für einen konstruktiven Populismus: Gute Politik wird nicht in Phone oder Dezibel gemessen. Gute Politik heißt: die richtigen Sachen zur richtigen Zeit zu sagen und zu tun, ganz einfach.
Als Linke müssen wir uns so langsam von den tradierten Erziehungsmethoden verabschieden. Es reicht nicht aus, eine Wahrheit nur zu kennen und diese einem Mantra gleich ständig zu wiederholen. Der Mensch ist – philosophisch gesehen – kein leeres Gefäß, in das jedermann seine Gedanken, Programme usw. füllen darf. Der Mensch ist ein vollkommenes Wesen. Als Erwachsener bedarf er keiner pädagogischen Hilfe, keiner Erziehung und auch keiner Belehrung.
– Was uns aber nicht davon abhalten darf, mit den Menschen mitzuleben, ihnen auf Augenhöhe immer wieder Angebote zu machen. Kurzum: Linke für andere zu sein.
Meine Utopie ist die: dass wir einander aushalten , der Einklang von Politik und Leben.
Deshalb: Lasst uns Populisten sein!
Allerdings verstehe ich unter einem modernen Populismus, dass die positiven
Handlungsoptionen deutlicher zur Sprache kommen. Es gibt immer Alternativen. Und die Benennung dieser Alternativen setzt selbstverständlich die Bereitschaft voraus, an deren Umsetzung mitzuwirken.
Dieser neue, positive Populismus befreit von der Angst. Er führt weg von billiger Totalkritik oder vom Zwang zur Anpassung und zeigt den Weg hin zur aktiven und mündigen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Ich weiß, das klingt jetzt sehr dialektisch: Wir überwinden den Kapitalismus in dem wir ihn erst einmal verbessern, menschlicher machen. Schon im Alten Testament steht: „Ein Jegliches hat seine Zeit.“ Und die Zeit ist mit uns. Nur Geduld! Der Gedanke ist so neu nicht, hieß nur früher Wandel durch Annäherung

[1] Heino Falcke: „Christus befreit – darum Kirche für andere. Hauptvortrag bei der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Dresden 1972“. In: Heino Falcke: „Mit Gott Schritt halten“ , Wichernverlag Berlin 1986, S.14-15.

Deutsch-sowjetische Freundschaft: Im schönsten Wiesengrunde

Von Manja Präkels (aus DENKSTATT der Gedankenmanufaktur Wort & Ton)

Anfrage an den Sender Jerewan: Stimmt es, dass der Kapitalismus am Abgrund steht?

Antwort: Im Prinzip ja, aber wir sind bereits einen Schritt weiter.

„Als Victor Ivanovich Nikitin, gemeinsam mit dem Alexandrov-Ensemble beim Friedenskonzert im August 1948 am Berliner Gendarmenmarkt „Im schönsten Wiesengrunde“ anstimmte, weinte die zerstörte Stadt. „Unter jedem Dach ein Ach“ hieß es damals. Und dort, an diesem Sommertag im Schutt mag mancher still für sich sich gedacht haben, daß es nun endgültig vorbei sei, mit dem Krieg. Für den Moment war „der Russe“ kein Feind mehr, sondern dieser großartige Sänger, der sich die Mühe machte, den Deutschen ein Lied vorzusingen, in ihrer Sprache. Das Konzert wurde im Radio übertragen und erreichte so Millionen Ohren. Meine Großmutter heulte, wenn sie nur daran dachte. Aber zum Heulen war ihr eigentlich immer zumute, wenn sie vom Krieg und seinen Folgen sprach.

An einem sonnigen Nachmittag war es auch, sie saß auf ihrer blauen Plüschcouch und strickte an einem Westover, daß sie mir von ihrer Freundin erzählte. „Die sind jede Nacht über sie drüber.“ Irgendwann sei die Freundin auf der Flucht zurückgeblieben. „Zum Sterben“, erklärte meine Oma, ohne daß ich danach gefragt hätte. „Mich haben sie verschont, ich hatte ja das Kind dabei. Die waren sehr kinderlieb.“ Ich war zwölf und verstand diese Geschichte als eines unserer vielen, kleinen Geheimnisse. Später, als sie meiner Schweigsamkeit gewiß sein konnte, erzählte sie von einem jungen Soldaten: „Ein Russe, noch Grün hinter den Ohren.“ Sie saß mit dem dreijährigen Kind, das Mama zu ihr sagte, aber nicht ihr Sohn, sondern eine der vielen Kriegswaisen war, in einem Berliner Keller, versuchte Nahrung aufzutreiben, zu überleben und herauszufinden, wo ihre Familie geblieben war, ob und wo die Eltern und Geschwister noch lebten. „Da war eine Eckkneipe. Gab’s immer Freitag was zum Essen.“ Meine Oma hatte einen Verehrer unter den dort Beschäftigten. „Hinter der Theke war so eine Luke, da ging’s steil runter zu´n Fässern.“ Sie lockten den jungen Soldaten mit Zigaretten. „Dann haben die ihn da runtergeschmissen und am nächsten Tag gab es Kaninchenfleisch.“ Die Oma strickte, heulte und ihre Tränen tropften auf die Wolle. Ich schwieg verwirrt und ging erst mal an die frische Luft….“ weiterlesen

Markus Liske: Von Künstlern und Anarchisten (aus „Schritt für Schritt ins Paradies“)

All lost in the Jugendkultur

„An anarchist is not a wild child, but a mature, realistic adult imposing laws upon the self and modifying them according to an experience of life, an interpretation of the world.“ Michael Moorcock

„Da steht er, der Anarchist. Steht schwankend auf der Querverstrebung eines Barhockers, den Schmerbauch vorgestreckt, die rechte Hand auf der Sitzfläche, die linke überm Kopf zur Faust geballt. „Isch rufe euch ssur direktn Akssion!“, brüllt er und verliert dabei fast das Gleichgewicht. Die revolutionäre Masse vor ihm – zwanzig oder dreißig schwarzgekleidete junge Männer – johlt und klatscht. Die Szene ist mir unvergesslich.
Erich Mühsam Fest 2003 im Stadtbad Oderberger Straße. Draußen dämmert es bereits. Die Betreiber der Bücherstände beginnen mit dem Abbau, das Live-Programm auf drei von vier Bühnen ist beendet, doch noch immer schieben sich ein paar hundert Menschen durch die schmalen Gänge. Plötzlich stürmt eine panische Hanna auf mich zu. Sie gehört zu einem Dreierteam sehr junger Pazifistinnen, das den Getränkeverkauf betreut. Alle drei haben keine Ahnung vom Anarchismus oder gar von Mühsam, sie sind uns in der Vorbereitungsphase zugelaufen, weil im Irak gerade Krieg tobt und wir deshalb den Antimilitarismus Mühsams in den Mittelpunkt dieses Festes gestellt haben. „Komm schnell, Markus!“, ruft sie. „Da wollen welche die Bar stürmen!“
Ich beruhige sie kurz, dann eilen wir gemeinsam zum Ort des Geschehens. Das erste was ich über die Köpfe erkennen kann, sind ihre beiden Kolleginnen. Sie haben sämtliche Bierkästen vom Tresen zurückgezogen und sich, mit leeren Flaschen bewaffnet, breitbeinig davor aufgebaut. „Tapfere Friedenstauben“, denke ich noch, da bin ich schon um die Gangkehre und sehe den dicken Anarchisten auf seinem Barhocker balancieren. Es ist mal wieder der Obermufti des Berliner Kultursyndikats. Beim letzten Fest pisste er um diese Uhrzeit noch fröhlich in die Gänge, diesmal scheint ihm das Geld für Bier ausgegangen zu sein….“ (weiterlesen)

“Schritt für Schritt ins Paradies – Handbuch zur Freiheit”

hg. von Karsten Krampitz & Klaus Lederer

Karin Kramer Verlag Berlin (hier kann man das Buch erwerben)